16.06.2010

Porträts - VI

Für mich war es nie erforderlich, dass jemand mir bei der Arbeit Modell stand, denn ich erzähle in einem solchen Porträt ja nur, was mir selbst an jemandem besonders auffällt. Und außerdem finde ich, dass es einem Porträt mehr schadet als nutzt, wenn man sich so schulmäßig, so peinlich genau an das Original, an das Vorbild hält. Freilich birgt diese freiere Auffassung ein enormes Risiko. Denn die Menschen haben ein anderes Bild von sich, wie sie selbst sich sehen möchten. So war es - das ist vielleicht interessant - bei dem Kádár-Porträt. Ich hatte Kádár mehrmals getroffen, bei Versammlungen verschiedener Institutionen und so weiter. Ich hatte Gelegenheit, sein Mienenspiel zu beobachten, wenn ich auch freilich nicht zu intimeren Kenntnissen kam, wie ich sie für ein Porträt gebraucht hätte. Was sich in meiner Vorstellung herauskristallisierte, das ergab sich eher aus dem Bild seiner Rolle im öffentlichen Leben. Nun, als ich von György Aczél den Auftrag bekam, zu irgendeinem Geburtstag Kádárs eine Büste von ihm zu machen, bat ich um einige Fotos, damit ich ans Werk gehen konnte. Als dann das Porträt fertig war, hat Kádárs Frau als erste dagegen protestiert.

Ich muss aber gleich noch auf einen anderen Fall zurückkommen, und zwar zu dem aus ähnlichem Anlass gefertigten Porträt Mihály Károlyis. Als ich schon damit fertig war, trommelte Károlyis Witwe, Katinka Andrássy, die halbe Regierung in meiner Werkstatt zusammen. Dort standen sie nebeneinander, unter Aczéls Führung, und Katinka Andrássy hielt eine Rede, wonach "mein Gatte nicht so war". - Na, dass ihr Mann doch so war, das steht außer Zweifel, aber in ihren Augen war er eben nicht so. Sie sagte, ihr Gatte sei jung, tatkräftig und phantastisch vital gewesen. In meinem Bewusstsein aber lebte jener Mihály Károlyi, der aus den Bildern meiner Erinnerung, den Erzählungen meiner Eltern zusammenfügt war. Károlyi war schwindsüchtig, er hatte tabes dorsalis, und deswegen konnte er nicht richtig gehen. Er hatte einen Geburtsfehler, war mit offenem Gaumen geboren worden und konnte deshalb nicht richtig sprechen - in der Familie meines Vaters erzählte man sich, dass, als er einmal in Kaposvár eine Rede halten sollte, das halbe Komitat zusammengeströmt sei, um den "belfernden Grafen" zu hören.

1 Kommentar:

  1. Aczél, György
    * 31.Aug.1917 Budapest
    + 06.Dez.1991 Budapest
    Ungarischer kommunistischer Politiker. Seit 1957 einflußreiche kulturpolitische Funktionen, eine Zeitlang "Kulturpapst".

    Kádár, János
    * 25.Mai 1912 Fiume (heute Rijeka, Kroatien)
    + 06.Juli 1989 Budapest
    Ungarischer kommunistischer Politiker. Mitglied der KPU seit 1931. Nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 bildete er im sowjetischen Auftrag neue Regierung. Von 1956 bis 1988 Erster Sekretär des ZK, 56-58 und 61-68 zugleich Ministerpräsident.

    Károlyi, Mihály (Graf)
    * 4.März 1875 Budapest
    + 19.März 1955 Vence (Frankreich)
    Ungarischer bürgerlich-revolutionärer Politiker. 1913 Vorsitzender der Unabhängigkeitspartei. Am 31. Okt. 1918 Ministerpräsident, nach Ausrufung der Republik deren Präsident, konnte er aber die Radikalisierung nicht verhindern, trat am 21. März 1919 zurück und ging freiwillig ins Exil. Kehrte im Mai 1946 nach Ungarn zurück. 1947-49 Botschafter in Frankreich, wo er nach dem Schauprozeß gegen László Rajk und "Komplizen" seinen Rücktritt erklärte.

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