15.06.2010

Märtyrer, Opfer und Helden - II

Eine der Stationen auf diesem Todesmarsch war Mohács, und deshalb wollten die Einwohner von Mohács ein Radnóti-Denkmal aufstellen. Das war zu einer Zeit, als das fünfjährige, wegen 1956 über mich verhängte Silentium bereits abgelaufen war, und dieser Auftrag war einer der ersten, die ich bekam. Nach fünf Jahren, in denen ich nur für mich selbst gearbeitet hatte, stand ich an einem Scheideweg: was sollte ich tun? Sollte ich ein konservatives, naturalistisches Porträt schaffen - beziehungsweise nicht einmal naturalistisch, sondern eine jener feierlich-hymnischen Auftragsarbeiten? Denn ein Porträt darf ja nicht kritisch sein, nicht wahr, erst recht nicht, wenn es Gegenstand einer so feierlichen Geste ist; es soll immer schmeichelhaft, immer erhaben, immer pathetisch sein. Diese fünf Jahre demütigender Arbeitslosigkeit hatten den Entschluss in mir heranreifen lassen, jetzt meinen eigenen Weg zu wählen. Und dieses Radnóti-Standbild ermöglichte es mir, mit mir selbst ins Reine zu kommen, welchen Weg ich gehen wollte.

Ich beschloss also zunächst: ich mache kein Porträt, keine Büste. Zum Honorar für die Büste - mehr konnte man nicht bezahlen, denn diesen Betrag hatten wir vereinbart - mache ich eine Vollfigur. In diese Figur und in die Beziehung zu ihrer Umgebung versuche ich all das hineinzulegen, was ich über Radnóti denke. Ich kam dahinter, dass ich mich als Künstler gleichsam in dieses Objekt verlieben musste. Das ist eine schwierige Sache, wenn die gleichgeschlechtliche Liebe der eigenen Gefühlswelt völlig widerstrebt. Trotzdem musste ich die Charakteristika finden, durch die ich diesen Menschen lieben konnte, und sie musste ich in der Figur zur Geltung bringen; alles andere übertrug ich auf die Umgebung. Ich übertrug die Situation: dass dies eine Straße ist, symbolisierte ich durch die Pflastersteine; dass wir hier an einer Station dieses Weges stehen, irgendwo bei der Rast oder kurz vor dem Zusammenbruch, das symbolisierte ich durch ein Holzgeländer. Ich habe die Figur also mit vielen Elementen der Realität umgeben. Dieses Prinzip wurde dann zum Rückgrat meines ganzen späteren Lebenslaufs. Immer folgte ich diesem Grundsatz, immer suchte ich die Identifikation mit der Person, auch wenn es um eine abstrakte Person ging. Ob also die Rede war von einem Gott oder von der Abbildung eines lebenden Menschen, immer und in jedem Fall musste ich eine gefühlsmäßige Beziehung zu dieser Person herstellen und sie in das historische Gesamtbild einfügen. Das war das Rückgrat aller meiner Arbeiten, von der ersten bis zur letzten. Wir könnten auch sagen, dass das die Maxime meines Lebenswerkes ist: meine ars poetica.

Nun, später hat sich erwiesen, dass ich mit dieser ars poetica eine sehr gute Wahl getroffen hatte; sie ermöglichte mir die Distanz des Dichters zur Welt, und gleichzeitig die Identifikation des Dichters mit seiner Dichtung. Meine Aussage baut immer auf die Kontradiktion zwischen These und Antithese auf. Der dramatische Kern wird immer aus einem solchen Widerspruch geboren. Ich gehe noch weiter: teilweise habe ich meine Helden bewusst danach ausgesucht, oder ich habe sie in dieser Kontradiktion, diesem dramatischen Widerspruch in dem Moment gezeigt, in dem sie scheitern. Jeder meiner Helden scheitert. Dieses Scheitern ist der dramatische Kern jeder einzelnen meiner Arbeiten.

1 Kommentar:

  1. Radnóti, Miklós
    * 5.Mai 1909 Budapest
    + zw.6.u.10.Nov.1944 Abda
    Ungarischer Lyriker. Gymnasiallehrer, Übersetzer. Starke intellektuelle Prägung, humanistische Grundhaltung. Wurde als Jude in ein Zwangsarbeitslager verschleppt und auf dem forcierten Marsch in ein deutsches Vernichtungslager von der SS erschossen.

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