16.06.2010

À la recherche - I

Zu diesem Zyklus gehören die Modelle, die wir hier im Nebenraum sehen können: Odette, die Großmama, etc.; geistig verwandt sind ihm aber auch z.B. die Mädchen mit den Regenschirmen.

Lassen Sie mich vielleicht zunächst sagen, dass in diesem Fall der Titel, "auf der Suche nach der verlorenen Zeit" - "à la recherche du temps perdu" - nicht ganz präzise ist. Er lässt sich auch nicht genau übersetzen, es wird schon zu vielerlei hineingedacht. Proust bedeutete für mich eine Möglichkeit, mir über meine Ziele als Künstler klar zu werden. Wenn man sich auf dieses Handwerk verlegt, versucht man sich zunächst in dieser Welt zu orientieren - in dieser Welt, denn das ist eine andere Welt - und versucht, die Wege zu finden, auf denen andere bereits gegangen und irgendwo ans Ziel gelangt sind.

Das Ende des 19. und besonders der Anfang des 20. Jahrhunderts brachten den Zerfall der naturalistischen Kunstauffassung. Wenn wir uns die Künste im Wandel der Zeit so vorstellen, dass wir irgendwo ein paar Tausend Jahre vor Christi Geburt beginnen und uns den Drang des Menschen, sich ein Idol zu schaffen, bewusst machen, sehen wir, dass verschiedene Kulturen verschiedene Strömungen durchmachen. Die europäische Kultur hat eigenartigerweise unmittelbar nach den ersten Anfängen gleich auf den abstraktesten Ursprüngen aufgebaut. Wenn man zum Beispiel an die Höhlen von Altamira denkt und sich an die mehr als zehntausend Jahre alten wunderbaren Zeichnungen der Urmenschen erinnert, dann kommt einem sofort die Frage in den Sinn, warum sie wohl diese wunderbaren Zeichnungen in einer dunklen Höhle angebracht haben, in der man sie nicht sehen konnte. Dieser allererste Schritt birgt in sich schon die Gesamtheit der menschlichen Bedürfnisse in sich. Sie haben diese Bilder nicht gemalt, weil sie sie sehen oder anderen zeigen wollten, sondern es war eine Kulthandlung. Sie symbolisierten, sie beschworen die Seele dieses Tieres, beschworen sogar seine erhoffte Tötung, nahmen das Bild der Zukunft vorweg und führten damit eine religiöse Handlung aus. Im Inneren der Höhle von Altamira finden wir, mit rotem Ocker gemalt, erlegte Tiere, aber wenn wir hinausgehen, werden sie zu Schriftzeichen. Es war bereits in frühester Urzeit des Menschen Ziel, das Wesentliche zu verallgemeinern, zu kodieren oder zu mystifizieren. Wenn der naturalistisch gemalte Ocker-Büffel in die Helligkeit hinaustritt, verwandelt er sich - ebenso wie außerhalb der Höhlen von Altamira - in ein kleines gemeißeltes, völlig buchstabenartiges Figürchen, sein natürlicher Ursprung ist kaum mehr sichtbar, wenngleich verständlich. Es findet also erneut eine Kodierung statt, und wie im Inneren der Höhle die Natur in der Dunkelheit verborgen war, so kodiert hier draußen die Abstraktion des Zeichens die dahinter befindliche Natur.

Dieses als Symbol verwendete Zeichen hat also die Jahrtausende der Geschichte überdauert - man näherte sich aber der Natur immer mehr an. Dieser Prozess geht immer von einem Symbol aus, immer ist also das Gottesbild das Wesentliche, und später nimmt der Gott die Gestalt von Natursymbolen an. Beispielhaft ist dafür die Entwicklung der ägyptischen Kunst, vom Alten Reich bis Echnaton. Später wendet sich die Sache ein wenig, aber etwa bis Echnaton verläuft es so. Das Götteridol nimmt die Gestalt des Menschen an, manchmal die des Pharaos, aber auch des Schakals oder des Krokodils.

1 Kommentar:

  1. Echnaton
    * ca. 1364 v.Chr.
    + ca. 1347 v.Chr.
    Ägyptischer König, eigentlich Amenophis IV., der sich selbst Echnaton (der Sonnenscheibe gefällig) nannte. Berühmt durch seinen Versuch einer "monotheistischen" Reform.

    Proust, Marcel
    * 10.Juli 1871 Paris
    + 18.Nov.1922 Paris
    Französischer Schriftsteller. Mit seinem 7-teiligen Romanzyklus "À la recherche du temps perdu" über den Abgesang der französischen Aristokratie wurde er einer der wichtigsten modernen Schriftsteller des XX. Jahrhunderts.

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